Die Umsetzung einer Energiewende ist ein langfristiger sozial-ökologischer Transformationsprozess und damit ein gesellschaftliches Experimentierfeld für die Reformfähigkeit eines hoch entwickelten Industrielandes im Zeitalter der Globalisierung.

Prof. Dr. Peter Hennicke, Quelle

Statement

Peter Hennicke zur Energiewende in Europa

Die visionären Artikel von Amory Lovins („The road not to be taken“, 1976), die Gründung des Öko-Instituts 1977 sowie die Publikation der „Energiewende. Wachstum (!) und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“ von F. Krause, H. Bossel, Müller-Reißmann (1980) waren wesentliche Wegmarken und intellektuelle Startimpulse der Energiewende.

Nur wenn wir die Lehren aus dem bisherigen Verlauf der Energiewende ziehen kann sie in Zukunft das werden, wofür der Konzept „Energiewende“ einmal vorgedacht wurde: Eine Welt ohne Uran, Öl, Kohle und Erdgas!

Allerdings muss betont werden, dass als „echte europäische Energiewende“ die Transformation zu einem vollständig dekarbonisierten, risikominimalen (also auch atomenergiefreien) und sozial- wie wirtschaftsverträglichen Energiesystem vorgeschlagen wird. Eine derartige Transformation des Energiesystems ist Voraussetzung und Triebkraft für den Klima- und Ressourcenschutz. Ein solches überaus ambitioniertes gesellschafts- und energiepolitisches Projekt ist ein historisch bisher einmaliger Prozess, der mindestens bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts andauern wird. Die deutsche Energiewende etwa befindet sich hierbei gerade erst in der Halbzeit.

Oft wird ignoriert, dass der Klimawandel nur eine, wenn auch die wohl bedrohlichste Folge nicht nachhaltiger globaler Produktions- und Konsumweisen ist, die bei einer bis auf 9-10 Milliarden wachsenden Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert die natürlichen Lebensgrundlagen für die gesamte Menschheit in Frage stellt. Solche fundamentalen Bedrohungsszenarien für die Erdbevölkerung durch multiple öko-soziale Krisen erfordern ein radikaleres Nachdenken über eine sozial-ökologische Transformation im globalen Kapitalismus, aber auch auf nationaler Ebene.

Eine Mindestbedingung für Lösungen ist mehr Politikintegration. Der Verlust an Artenvielfalt, die Überfischung der Meere, die Zerstörung natürlicher Biome durch Landnutzungsänderung, die Veränderung von Nährstoffkreisläufen (Stickstoff, Phosphor), die Versauerung der Ozeane etc. signalisieren eine bedrohliche Überschreitung „planetarer Grenzen“ (Rockström et al. 2009), die es „eigentlich“ unmöglich machen sollte, Ökonomie, Gesellschaft und Ökologie als getrennte und nicht interdependente Systeme zu verstehen und zu behandeln.

In ökonomischer Hinsicht bedeutet eine leitzielorientierte, ambitionierte Klima- und Ressourcenschutzpolitik einen angekündigten, staatlich beschleunigten ökonomischen Strukturwandel, dessen Chancen und Herausforderungen aber zu wenig analysiert und daher unzureichend vorsorgend, sozial- und wirtschaftsverträglich gestaltet wird.

Märkte sind ohne Rahmensetzung perspektivisch blind. Märkte sind auch kein Ziel, sondern Mittel, um gesellschaftlich vereinbarte Ziele wirksamer zu erreichen. Das gilt besonders für den staatlich beschleunigten Strukturwandel der Klimaschutzpolitik. Daher bedürfen anspruchsvolle und gesellschaftlich gewünschte Veränderungen wie ein gleichzeitiger (schrittweiser) Ausstieg aus Kohle und Uran auch einer neuen Governance im Rahmen einer vorsorgenden sozial-ökologischen Industrie- und Dienstleistungspolitik.

Definiert man Nachhaltigkeit als das Bestreben, nicht auf Kosten von Um-, Mit- und Nachwelt zu produzieren und zu konsumieren, dann formuliert dies einen hohen wissenschaftlichen Anspruch auch an neues Nachdenken und systembewusstere, wirtschaftspolitische Analysen, der wegen der Komplexität der Herausforderungen nur schrittweise zu erfüllen ist.

Die Dringlichkeit des Klima- und Ressourcenschutzes wie auch die sich verschärfende Verteilungs- und Demokratiekrise machen rasches Handeln notwendig . Robuste, das heißt wirkmächtige, sozialverträgliche und langfristig zielkongruente Reformen sind unabdingbar.

Die deutsche Energiewende-Politik steht im Kontext der europäischen Klima- und Energiepolitik. Als wirtschaftlich stärkstes EU-Mitgliedsland bremst Deutschland einerseits immer wieder eine ambitioniertere europäische Rahmensetzung etwa im Sektor Mobilität). Andererseits wirken der Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung und die ambitionierte Zielsetzung des deutschen Energiewende-Konzepts noch immer beispielgebend.

Eine Grundthese ist daher erstens, dass die deutsche und europäische Energiewende konzeptionell zusammengedacht und genauer auf ihre Wechselwirkungen (positive Synergien, negative Seiteneffekte) analysiert werden muss. Und dass zweitens eine erfolgreiche europäische Energiewende eine gemeinsame Initiative und Allianz mehrerer Länder erfordert, idealerweise vorangetrieben durch die beiden ökonomisch stärksten und nachbarschaftlich agierenden Länder Frankreich und Deutschland.

Einige Energiekonzerne schalteten 1993 eine Anzeigenkampagne in der die erneuerbare Stromerzeugung bestenfalls als additive Option dargestellt wurde: eine Nischentechnologie, die perspektivisch lediglich 4 Prozent zur Gesamtstromerzeugung beisteuern könne. Heute ist klar: So viel Arroganz der Macht muss sich rächen. Inzwischen kämpfen die ehemaligen Konzerne durch Fusionen und radikale Umstrukturierung um ihre wirtschaftliche Zukunft

Aber eine noch über kommunale Eigner hinausgehende Dezentralisierung ist zukünftig in großem Umfang möglich, gestützt auf modernste dezentrale Stromerzeugungstechnik (auf Basis erneuerbarer Energien wie Sonne, Wind, Biomasse) sowie die IKT-basierte Steuerung und Optimierung von Netzen und von unterschiedlichen Erzeugungs- und Speicheroptionen (etwa smart grids, virtuelle Kraftwerke; vgl. Next, Kraftwerke, o.J.)

Die heutige regierungsoffizielle deutsche Energiewende-Politik hat also einen langen gesellschaftspolitischen Vorlauf. Ihr Momentum beruhte lange auf der Anti-Nuklearbewegung, die sich erst später mit einer Pro-Erneuerbaren- und erst kürzlich mit einer Pro-Energieeffizienz-Bewegung verband und von einer wachsenden Anzahl wissenschaftlicher Studien unterstützt wurde.

Vieles deutet darauf hin, dass die Synergieeffekte zwischen mutiger Anti-Atombewegung und zunehmend atomkritischer Wissenschaft einen prägenden Einfluss auf die Durchsetzung der Energiewende in Politik und Zivilgesellschaft genommen haben.

Eine deutsch-französische Innovationsallianz unter besonderer Einbeziehung „grüner“ Industrien könnte dazu beitragen, Bremsklötze durch nukleare und fossile Partikularinteressen abzubauen und die Energiewende, eine vollständige Dekarbonisierung und Risikominimierung durch Ausstieg aus der Atomenergie zu beschleunigen.

Wenn Frankreich und Deutschland bei diesem strukturellen Hemmnisabbau vorangingen, dann würde dies Europa zweifellos der konkreten Utopie, der Europäisierung der Energiewende, ein erhebliches Stück näher bringen.

Nicht nur „grüne“ europäische und amerikanische Industrien, sondern eine breite zivilgesellschaftliche sozialökologische Bewegung könnte das globale Zukunftsprojekt „Energiewende“ beschleunigen und damit auch einer europäisch–atlantischen Partnerschaft einen neuen, wirklich zukunftsfähigen Inhalt geben.

Wuppertal, Frühjahr 2019